Als sie nach schier endloser Zeit wieder zu dem stillen See ging, um mit ihrem Unterbewusstsein Kontakt aufzunehmen, hatte sie viel nachgedacht. Sie hatte sich über ihr Ziel Gedanken gemacht, hatte dieses positiv formuliert und konnte förmlich fühlen, wie es wäre, wenn sie es erreicht haben würde. Sie hatte sich vorgenommen, von nun an ihre Sinne offen zu halten, Fähigkeiten zu erwerben um wieder ihre Macht zurückzugewinnen und flexibel auf alles zu reagieren, was ihr unterwegs begegnete. Auch hatte sie sich vorgenommen ihr Verhalten so lange zu ändern, bis etwas funktionierte, von nun an immer nach mindestens drei Möglichkeiten zu suchen und ihre Kommunikation mit anderen Menschen nicht mehr daran fest zu machen, was sie selbst empfand, sondern vielmehr daran, wie die anderen auf sie reagierten. Sie wollte nicht mehr, wie bisher, immer gleich beleidigt sein, wenn andere ihr Dinge sagten, die ihr wehtaten, sondern wollte stattdessen hinter allem eine gute Absicht vermuten oder wenigstens genauer nachfragen.
„Ach, wenn ich doch nur wieder zaubern könnte!“ wünschte sie sich oft. „Oder wenn ich doch wenigstens ein Bedeutungshandbuch hätte, dann würde mir vieles leichter fallen und ich könnte leichter begreifen, wenn Menschen davon erzählen, dass sie kein Licht am Ende des Tunnels sähen und eigentlich damit meinen, dass sie das Leben manchmal genauso erdrückt wie mich“.
Da sie eine kluge Zauberin war, ließ sie sich trotz kleiner Niederlagen nicht entmutigen und hatte für sich selbst beschlossen, dass es von nun an für sie keine Fehler mehr gäbe, sondern nur noch Resultate und wenn ihr diese nicht gefielen, müsste sie halt etwas Anderes ausprobieren solange bis . . .
Nur mit einem kam sie doch noch nicht ganz zurecht. Und das machte ihr Kopfzerbrechen. So ging sie wieder zu dem stillen See um ihr Spiegelbild, das mittlerweile zu einer guten Freundin geworden war, zu befragen.
„Liebes Unterbewusstsein, wie kann ich nur all das lernen, was ich schon einmal wusste und wieder vergessen habe? Es erscheint mir alles so aussichtslos.“
Das Unterbewußtsein lächelte gütig:
„Lernen ist leicht und macht Spaß und ich helfe dir gern. Öffne dich für das Neue, lerne was es zu lernen gibt und lass zu, dass meine Weisheit zu dir sprechen darf. Komm so oft du magst zu mir, hier an diesen stillen See und lass dich überraschen, was dir auf deinem Weg alles begegnen wird. Alles ist gut – auch deine Unsicherheit, denn du befindest dich in einem Zustand des Wissens um die Dinge, nur fehlt dir zur Zeit noch das richtige Werkzeug, um dieses Wissen auch zum Wohle Aller anzuwenden. Schon bald wirst du einen Punkt erreichen, an dem du glauben wirst, der Weg sei zu schwer, um weiter voranzuschreiten und vielleicht möchtest du umkehren. Sei wachsam und klug, gehe ruhig und gelassen weiter, immer in dem Wissen, dass ich bei dir bin und dich unterstütze, wenn du mich lässt. Und eines Tages, vielleicht schon früher als du es dir jetzt vorstellen kannst, wirst du dich fragen, ob es jemals eine Zeit gegeben haben mag, da du all diese wunderbaren Fähigkeiten nicht zur Verfügung hattest... – So, und nun spring hinein, lerne, verwerfe, lerne neu, sammele Informationen, ändere dein Verhalten, erwerbe Fähigkeiten, überprüfe deine Werte und deinen Glauben und finde heraus, wer du damit wirklich bist, welchen Platz du in dieser Welt einnimmst und was du über dich und die Welt glaubst!“
Stumm vor Freude über so viele gute Worte und mit der Gewissheit, den stillen See jederzeit aufsuchen zu können, machte sich die Zauberin auf ihren Weg. Als erstes wollte sie sich selbst ein Geschenk machen, das ihr, in manch schwerer Stunde, von nun an eine Unterstützung sein sollte. Sie hoffte inständig, sie fände etwas – sie suchte nach etwas wirklich Schönem in ihrer Vergangenheit. Ihr Blick ging nach oben... und tatsächlich, es tauchten längst vergessen geglaubte Bilder auf und sogleich wurde sie durchflutet von diesem wunderbar warmen Gefühl von Geborgenheit. Wer die Zauberin beobachtete konnte an ihrer gesamten Körperhaltung erkennen, dass sie etwas sehr Schönes erleben musste. Ihr Kopf war leicht geneigt – fast sah es so aus als hörte sie sanfte Musik, ihr Gesicht war entspannt, glücklich und so schön wie seit Ewigkeiten nicht mehr. Sie versprach sich selbst, sich von nun an dieses Gefühl wiederzuholen, wann immer sie es nötig hatte.
Sie lernte fleißig, denn sie hatte große Ziele und verfeinerte mehr und mehr ihre Fähigkeit mit anderen sowie mit ihrem Unterbewusstsein zu kommunizieren. Nach und nach konnte sie immer besser die inneren Stimmen auseinanderhalten und lernte, dass es viele verschiedene Anteile in ihr gab, die sich auch schon mal kräftig miteinander stritten und manches Mal war sie darüber recht böse, aber sie gab niemals auf. Sie lernte die Anteile zu identifizieren, lernte jedem einzelnen Raum zu gewähren, lernte zuzuhören und nach der guten Absicht zu forschen, genauso wie sie es in der Unterhaltung mit anderen Menschen gelernt hatte. Je mehr Routine sie bekam, desto mehr Spaß machte ihr das Ganze und langsam bekam sie eine Ahnung davon, was ihr Spiegelbild meinte, als es ihr sagte, Lernen sei leicht.
So fand sie auch heraus, dass es einen Träumer in ihr gab, der viele Ideen hatte und herrlich herumspinnen konnte. Zwar waren nicht alle Träumereien umsetzbar, aber das war ihm herzlich egal. Träumer träumen, PUNKT! Für die Umsetzung ist schließlich jemand anderes zuständig. Diesen Jemand nannte sie den Realisten und der leistete ganze Arbeit. Er strukturierte, stellte Finanz- und Zeitpläne auf, schuftete den lieben langen Tag und verwarf auch schon mal die eine oder andere Verrücktheit. Aber auch so ein tatkräftiger Macher, wie der Realist, übernahm sich manchmal und vor lauter Aktivität und dem festen Willen alles umzusetzen, was er sich vorgenommen hatte, hätte er schon häufiger das Ziel aus den Augen verloren, wenn es da nicht auch noch den guten Ratgeber gegeben hätte. Dieser überprüfte wohlwollend zwar, aber dennoch kritisch sämtliche Pläne und unterzog sie einer strengen Sinnkontrolle. Besonders diese drei Anteile ergaben ein richtig gutes Team und wenn die Zauberin so von außen auf die drei schaute, wusste sie, nachdem die Anfangsschwierigkeiten überwunden waren, drei äußerst zuverlässige Partner an ihrer Seite.
Weiter und weiter trug sie der Weg, sie wurde einfühlsamer und konnte mehr wahrnehmen als früher. Sie lernte, sich in die ‚Schuhe‘ anderer zu stellen, um so herauszufinden, was die Menschen wirklich bewegt, lernte gewissen Erlebnissen eine andere Bedeutung zu geben und wurde so auch milder in der Beurteilung ihrer eigenen Schwächen. Mit Unterstützung der Ressourcen, die nun immer öfter und leichter aus ihrer Vergangenheit auftauchten und die sie, sobald sie auftauchten, tief in ihrem Herzen verankerte, lernte sie ihr subjektives Empfinden zu verändern.
Vieles lernte die Zauberin und langsam bekam sie einen Eindruck von der Zauberkraft, die ihr einst zur Verfügung gestanden hatte. Sie verbesserte stetig ihre Wahrnehmungsfähigkeit und schaute anderen Menschen dabei zu, wie sie ihr Leben gestalteten. Waren das vielleicht auch Zauberer . . . , die genau wie sie ihre Zauberkraft verloren hatten? Sie wusste es nicht, wollte auch nicht fragen. Doch sie beobachtete sie genau und indem sie die Art, sich zu bewegen, zu sprechen und zu atmen übernahm, schaffte sie eine harmonische und offene Beziehung zu den Menschen. Manchmal, wenn ihr bestimmte Fähigkeiten und Überzeugungen ganz besonders wichtig waren, fragte sie sehr gezielt nach.
Manche Menschen hatten Schwierigkeiten damit, denn noch niemand hatte so viele merkwürdige Fragen gestellt wie die Zauberin, aber sie vertrauten ihr und gaben bereitwillig Auskunft. Warum das so war wussten sie allerdings nicht, doch die Menschen hatten immer das Gefühl, dass die Zauberin gerade ihnen ganz besonders ähnlich sei oder zumindest einer sehr guten Freundin. Die Zauberin lächelte dann leise in sich hinein, wohlwissend, daß sie bereits sehr viel gelernt hatte und dass die Magie nun endlich wieder in ihr Leben zurückgekehrt war.
Und doch, es gab noch mehr im Leben. Es musste noch mehr geben, denn noch immer wurde sie von Zweifeln und Ängsten heimgesucht. So nahm sie all ihren Mut zusammen und machte sich wieder auf um mit ihrem Unterbewusstsein zu sprechen.
„Schau“, sagte sie „ich habe viel gelernt, die Magie, die ich so lange vermisst habe, ist wieder zu mir zurückgekehrt, ich habe sogar einen Teil meiner Zauberkraft wiedererlangt und ich habe gelernt diese Kraft zu meinem Wohle und zum Wohle aller einzusetzen . . . Aber etwas hält mich zurück, denn ich weiß, ich kann mehr. Bitte, liebes Unterbewusstsein, bitte hilf mir an mein wirkliches Potential zu gelangen, damit ich dieses Wissen auch an andere weiterreichen kann und sie lehren kann, dass auch sie diese Zauberkraft in sich tragen“.
Fast flehentlich klang die Stimme der Zauberin. Da lächelte das Unterbewusstsein gütig und wissend, dass nun der richtige Zeitpunkt gekommen war.
„Schließe deine Augen und entspanne dich. Du hast viel gelernt, hast viele Hürden überwunden, du weißt deine Macht im guten Sinne zu gebrauchen und deshalb bist du es nun wert, das Geheimnis der wahren Magie zu ergründen. Eine letzte Prüfung musst du aber noch bestehen und die wird nicht einfach sein (an dieser Stelle konnte sich das Unterbewusstsein ein breites Grinsen kaum verkneifen). Du musst einmal noch durch all die schlimmen Augenblicke deines Lebens treten, sie noch einmal mit all dem damit verbundenen Schmerz ansehen und hineinfühlen, um so Schritt für Schritt dein Leben rückwärts zu verstehen und durch das Dunkel ins Licht gelangen, um dann endlich dein Leben vorwärts leben zu können. Wenn du dazu bereit bist, wirst du mit dem belohnt, wofür du so zielstrebig gearbeitet hast“.
Die Stimme sprach leise auf sie ein, die Zauberin konnte nur noch schwach nicken und machte sich, noch ein wenig ängstlich, auf die Reise. Sie durchlebte all die schmerzhaften Stationen ihres Lebens noch einmal – auch die längst vergessen geglaubten. Sie konnte, je weiter sie zurückschritt, erleben, wie sie nach und nach all ihre Macht verloren hatte. An jeder Station ein bißchen mehr. . . . all ihre Macht verloren hatte??? NEIN! Ein Blitz der Erkenntnis durchzuckte sie, es war viel schlimmer. Sie hatte ihre Macht nicht verloren, sie hatte ihre Macht an andere einfach abgegeben. Sie selbst war es . . . Einmal an den Ehemann oder an den Chef, ein anderes Mal an sogenannte Freunde, sogar an die Eltern . . .
Und sie erkannte auch, je mehr sie ihre Macht abgegeben hatte, desto dichter zogen die Nebel des Vergessens auf, hüllten sie ein in ihren bleischweren Atem.
Und dann plötzlich, gerade als der Schmerz übergroß wurde, sie gerade aufgeben wollte, umgab sie wohltuende Stille, die Nebel rissen auf und der Schmerz über ihr Versagen und die Einsamkeit wich der Gewissheit, eingebettet zu sein in Liebe und Geborgenheit und dem wundervollen Gefühl, sich selbst genug zu sein. Tiefer Friede verbunden mit einer großen Leichtigkeit breitete sich in ihr aus. Ja, in diesem Wissen wollte sie von nun an ihr Leben leben. Ein wunderbares Leben voller Magie!
„Gibt es vielleicht ein Wort oder einen Satz, der all das beinhaltet, was du hier lernen und erleben durftest und mit dem du von nun an deinen Weg gehen wirst?“ fragte wie von Ferne eine Stimme.
Ein würdevolles Lächeln erhellte das Gesicht der Zauberin. „Ja“, dachte sie „den gibt es“ und gab dieser neu gewonnen Überzeugung den schönsten Platz, den sie in ihrem Herzen finden konnte.
Und sie dachte noch mehr:
„Das also ist wirkliche Zauberkraft und ich bin eine machtvolle Zauberin“.
Alle Rechte an diesem Text liegen bei Regina Neutzler